Der Ruf

Kurz vor seinem 50. Geburtstag wurde Niklaus von Flüe ergriffen von einer quälenden Unruhe. Wurde er von Gott gerufen? Wollte Gott, dass sein ganzes Leben fortan nur noch ihm gehören sollte? War es Gott, der ihn erfüllte mit dem Gedanken, dass er seine Familie und all seine Güter verlassen und auf den Pilgerwegen Europas unterwegs sein müsse, ganz und gar abhängig von dem, was Gott ihm jeden Tag zukommen liess?

Möglich war das. Die Kirche rechnet bis heute damit, dass Christus lebt und wirkt, und dass er darum möglicherweise auch jetzt Menschen beruft, so wie er einst in Galiläa seine Jünger berufen hat. So wie diese ihre Familien verlassen mussten, kann auch heute Gott einen Menschen zu einer ungeteilten Nachfolge rufen. – Doch auch mit etwas anderem muss man rechnen: Der Ruf von der Familie fort könnte das Produkt eigener Wünsche und Sehnsüchte sein, eine Folge des nur allzu begreiflichen Verlangens, alle  beschwerenden Alltagspflichten und ermüdenden Enttäuschungen abzustreifen und hinter sich zu lassen. Was wie ein göttlicher Ruf in das Herz dringt, könnte eine teuflische Versuchung sein.

Das kirchliche Recht sieht darum vor, dass ein solcher Ruf sorgfältig geprüft werden muss. Dabei gilt die alte biblische Vorschrift: Aus dem Mund von zwei oder drei Zeugen soll jede Sache als gültig und rechtmässig erkannt werden (5. Mose 19,15; vgl. Johannes 8,17). Wenn ein Mensch zur Überzeugung kam, Gott rufe ihn fort von seinen Verpflichtungen, zum Beispiel in ein Kloster, dann forderte das kanonische Recht, dass der Ehepartner seine freie Zustimmung geben müsse, und dass ein Priester sich überzeugen und seinerseits bezeugen müsse, dass es auch nach seiner Erkenntnis ein göttlicher Ruf sei, der diesen Menschen auf diesen Weg führe.

Etwa zwei Jahre lang haben die Eheleute, begleitet von ihren Seelsorgern, um die rechte Antwort gerungen. Schliesslich hat Dorothea ihre Einwilligung gegeben. Zum Zeichen ihres Einverständnisses soll Dorothea ihrem Mann eigenhändig das Pilgergewand gewoben haben. Am Gallustag, dem 16. Oktober 14167, hat Niklaus die Seinen verlassen, um zu „verelenden“. Auf den Pilgerwegen im Ausland (im „Elend“) sollte er in Zukunft seine Heimat haben. Das war der Gedanke, mit dem er und mit dem seine Familie und seine Ratgeber Abschied voneinander nahmen.